Warten auf Goaldot!

24. Spieltag: SV Borussia Pankow 1960 – FSV Hansa 07 II 2:5 (1:2)

Es ist uns allen bewusst, aber es kann nicht oft genug gesagt werden: Im Selbstverständnis eines Hanseaten versteht man sich nicht nur als Sportler. Der Verein ist für ihn nicht bloß Fußballverein, er ist vielmehr Teil einer Kultursuppe, die aufgrund historischer und infrastruktureller Gründe in Form eines Berliner Ortsteiles zusammengefasst wird. Ja, in Kreuzberg lebt die Kultur noch und so kann man sagen, dass unsere FSV nicht zuletzt ein Kulturverein ist, in dem Kultur im Geiste eines postmodernen Humanismus verlebendigt wird. Bewohner der Mitte, die solche Formulierungen verlachen oder gar als arrogant befinden sei gesagt, dass sie einen Beweis für solch hochgestochene Aussagen am Samstag leider verpasst haben, an dem vonseiten der Hanseaten Fußballkultur, fast schon im Stil des gleich gefärbten deutschen Meisters, zelebriert wurde.

Erklären lässt sich dieser Umstand mit einem Blick in die jüngste Vergangenheit und der Auflösung, für die peinlich gewählte Überschrift dieses Berichtes. Wie jeder große Triumph begann dieser ganz unten, nämlich am Boden. Richtig guten Fußball vermisste man zwar schon länger, aber die Hoffnung lebte, die Siege wurden eingefahren. Bis zu diesem verfluchten 1:5 gegen Türkspor! Die Mannschaft schien gebrochen, Trainer Nutsch kämpfte mit der eigenen Motivation. Die Niederlage war eine Art Sinnverlust für unsere Helden vom Samstag, aber wie es sich für einen Kulturverein gehört, bedeutete das nicht das Ende. Es kam zu einem Paradigmenwechsel und für einen solchen gibt es natürlich auch kulturelle Vorbilder! Sinnlosigkeit, dachte sich wohl Trainer Nutsch, das gab’s doch schon mal. Also begab sich der Trainer der Hanseaten in Lektürearbeiten und stieß dabei wohl auf die Vorbilder Camus und Beckett, zum Leid oder zur Freude der Mannschaft, war damals nicht ganz sicher. Bei den Vorbildern wird der Sinnlosigkeit der Kampf angesagt und zwar durch die Akzeptanz derselben und der gleichzeitigen Auflehnung, sei es auch dadurch, dass man verflucht noch mal, immer wieder dasselbe macht, auch wenn kein Ziel in Sicht ist.
Der Plan wurde konsequent durchgezogen. Die Trainingseinheiten der letzten Wochen unterschieden sich strukturell kein bisschen von einem Beckettstück. Die ständige Wiederholung des gleichen, wie in einer Art Endlosschleife. Was bei Sisyphos der Fels war, war bei uns das Angriffstempo und was bei „Warten auf Godot“ Godot war, war bei uns der Doppelpass. Bedeutet: Das mit dem Tempo klappte einfach nicht und der Doppelpass kam einfach nicht an. Als Kulturverein war man natürlich trotzdem stolz, so richtig erfolgreich war man mit dem neuen Paradigma zwar noch nicht, aber zumindest kompensierten wir unseren Frust durch harte Arbeit. Der Zug im Training war wieder da, und dass der Fels vielleicht doch nicht immer auf der anderen Seite herunter rollt konnte der Samstag ja noch zeigen.

Samstag, 12Uhr. Eine Kirchenglocke in Pankow liefert den phonetischen Beweis für die Püntklichkeit der noch fehlenden Hanseaten inklusive Trainer und Spielmaterial. Ein Blick gen Himmel bewies hingegen, dass die Wetterfroschkarriere von Kapitän Emmerling erbärmlich im Sonnenschein ersoffen ist. Bestes Fußballwetter im Norden, sodass auch die unkonventionelle Kabinenarchitektur der Spielanlage, welche eine Zweiteilung der Mannschaft erforderlich machte, die Gemüter unserer Helden nicht trüben konnte. Im Gegenteil, die Kollegen McBain und Schröder stimmten wieder einmal fröhlich (scheinbar zufällig gewählte) Lieder an und warfen damit bewusst weiter Kohle ins Planungsfeuer einer hoffentlich bald erscheinenden Hansa-LP. Der Startelf  durfte man zum ersten Mal seit gefühlten 35 Saisonspielen, das Attribut der Kontinuität zusprechen. Schuhe an, weiteres taktisches Geplänkel, raus gehen.

Die Drei von der Bankstelle plus Ultra

Etwas später durfte die gut gefüllte Auswechselbank auf den spärlich vorhandenen Plätzen am Rande des als Rasen verkleideten Teppichs platznehmen, auf welchem nun gespielt wurde. Und dann? Die gutgeschulten hanseatischen Zuschauer trauten ihren Augen kaum. Die Spieler waren doch tatsächlich auf die Idee gekommen von der ersten Minute an Fußball zu spielen. Die ersten 15 Minuten, die normalerweise zur Akklimatisierung oder gar zur Ausnüchterung einiger Hanseaten gebraucht werden, dienten nun zum Probelauf, sozusagen eine ästhetisch hochwertige Aufwärmphase mit Wettkampfbedingung. Wäre da kein Schiri zu sehen, hätte man meinen können, die letzten 15 Stunden zwischen Abschlusstraining und Anpfiff hätten nicht stattgefunden. Der Verstand der Zuschauer sagte zwar was anderes, aber epistemisch war es nicht anders zu erklären: Die FSV ist an diesem Samstag echt auf die Idee gekommen, das im Training geübte, in einem Spiel umzusetzen, wenn nicht gar noch ausgereifter als bei den Übungen selbst.

Nach dieser schon sehr ansprechenden Aufwärmphase wurde es noch verwirrender. Der Grund dafür war ein Angriff über die rechte Seite, an welcher Élleberg sich im Eins gegen Eins durchsetzte, Tempo aufnahm und im Strafraum auf den neuen 9 ½ Hoss auflegte. Dieser bewahrte den Überblick, Querpass im Strafraum zu Schumann und dieser nun völlig unbewacht in die Maschen. Am Seitenrand diskutierte man, logisch,  dialektisch, laut. Hat man das trainiert? Anscheinend. Unfassbar. Mit sowas kann man also Erfolg haben?!

Die Spielkontrolle blieb danach bei Hansa, auch das hatte man schon anders erlebt. Bald hieß es schon 0:2. Heute schien nichts schiefgehen zu können. Die Ballsicherheit, die mit dem alten 6er-Duett wiederkam, wurde gekonnt und in kurzen Intervallen mit dem neu erworbenen Tempospiel gekoppelt. Mit der Hansabrille und in der Tradition schlechter Relativisten ließe sich sogar sagen: Wenn man eine Ontologie über das Fußballspiel verfassen wollte, in der man die Seinsformen des Spiels analysiert, so hatte die erste Halbzeit der Hanseaten alle positiven Seinsformen vereint. Und für die pessimistischeren nicht hanseatischen Ontologen, erlaubten die Hanseaten sich sogar noch ein Gegentor vor der Pause einzufangen.

Hansa blühte auf. In Gelb, in Schön, erfolgreich.

Das Gegentor vor der Halbzeit war natürlich fahrlässig, aber in Anbetracht der zweiten Halbzeit, war es für den Verlauf unserer Erfolgsgeschichte vermutlich nicht von Nachteil. Pankow drückte nach Wiederanpfiff, was die Hanseaten, aber im Bewusstsein der neu gewonnenen Erkenntnisse für sich nutzten. Eine sehr theoretische und nicht zu rekonstruierende Argumentationskette lieferte folgende Konklusion. Wenn der Gegner drückt können wir, jetzt wo wir mit Tempo angreifen können, kontern. Gesagt getan. Die zweite Halbzeit war ein Fest für Freunde des Umschaltspiels. Vielleicht hat man ja neben den kulturellen Vorbildern, im Zuge des gemeinsamen Kneipenbesuchs auch fußballerische gefunden. Auf Dortmund wurde ja eben schon verwiesen. Jedenfalls großes Kino.

Und als dann zum Schlusspfiff das eintausendste Flugzeug über den Platz hinweg flog und Richtung Tegel sank, war man sogar ein bisschen traurig, weil dann doch alles so schnell ging. Es können jetzt Experten kommen und sagen: Das war vielleicht nicht das Training, es liegt wohlmöglich an unserem starken Torhüter an diesem Tag, an der stabilen Abwehr, welche sich in der letzten Woche gefunden hatte, der Rückkehr der alten Doppelsechs, oder an einem stark auftretenden André Hoss und dem damit einhergehenden Verständnis mit Sturmpartner Schachner. Alles vielleicht ein bisschen richtig. Aber als Kulturverein brüstet man sich gerne mit der Überwindung der Absurdität. Und solang der Stein nicht runter rollt, dürfen die aus Mitte lachen und unser Gerede für arrogant halten. Ein wenig haben wir uns das auch verdient.

(Autor: Antonio Berendetto)

Aufstellung: E. Selk – A. Selk, Strzoda, Meiser, Helleberg (58. Labude) 
- Schumann (73. Bublak), Tucic (77. Kreischer), Emmerling, Netz – 
Schachner, Hoss

Tor/e: 0:1 Schumann (16., Rechtsschuss, Hoss), 0:2 Emmerling (37., 
Rechtsschuss, FE, Netz), 1:2 (45.), 1:3 Schachner (56., Linksschuss, 
Hoss), 1:4 Schachner (70., Rechtsschuss, Meiser), 1:5 Hoss (71., 
Rechtsschuss, Schachner), 2:5 (86.)

Kart/en: keine

Spieler des Spiels: André Hoss – mit vielen guten Szenen, zwei Assists, 
einem Tor, vielen Ballkontakten und gutem Einsatz. Bestes Spiel im 
Hansa-Trikot.

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